Am 16. Juli 2013 gegen 11:15 Uhr hat es mich dann auch erwischt. Ich stürze mit dem Fahrrad und falle auf die rechte Seite und schlage dabei auch noch mit dem Kopf auf den Asphalt. Noch während des Aufpralls beschließe ich einen Helm zu besorgen. Ich rutsche also über den Teerbelag, bleibe kurz liegen und springe sofort wieder auf. Mein Blick wandert zu meinem rechten Bein, dort hat sich in wenigen Sekunden ein dickes Ei rechts des Schienbeins gebildet, gleichzeitig fasse ich mir an den Kopf und ertaste eine riesige Schwellung und feuchte Finger verraten mir, dass wohl auch Blut fließt. Als ich den rechten Arm senke schießt ein stechender Schmerz durch die Schulter. Aha – da ist also auch was kaputt, schießt es mir durch den Kopf.
Ich such mein verstreutes Zeug zusammen und mache mich einarmig mit dem Rad auf den Rückweg. Es ist den Hormonen geschuldet das ich das schaffe, bekanntlich wird ja direkt nach so einem Sturz eine Menge Adrenalin ausgeschüttet, angeblich nur zu dem Zweck damit man seinen Körper und andere Dinge noch nach Hause schaffen kann.
Dort angekommen ziehe ich unter heftigen Schmerzen das T-Shirt aus und eine seltsame Beule auf der rechten vorderen Schulter wird sichtbar. Verdammt, sieht nach Schlüsselbeinbruch aus. Somit ist eine Fahrt ins Krankenhaus unausweichlich. Die Schwellung am Schädel blutet zum Glück nur oberflächlich und tut kaum weh. Sie wird umgehend mit Eis versorgt, im Wechsel mit der Schwellung am Unterschenkel. Da ich ein ordentlicher Mensch bin und im Krankenhaus niemanden einen ungeduschten Körper zumuten will, springe ich noch schnell in die Dusche und wasche mich so gut es geht.
Vergeblich versuche ich Carmen zu erreichen, also muss ich eine Entscheidung treffen wie es nun weitergeht. Krankenhaus scheint unumgänglich. Aber welches? Wie pflege ich immer zu sagen – Google weiß alles!
Ich setze mich also an den PC und such nach Krankenhäusern in der Umgebung. Das erste scheidet aus, da es auf Altersleiden (Geriatrie) spezialisiert ist, das merke ich mir für später mal. Das zweite scheidet aus da die Bewertungen von Patienten nichts Gutes ahnen lassen. Ich entscheide mich als für das Marienhospital in Gelsenkirchen Ückendorf, es ist als Unfallkrankenhaus ausgewiesen und passt somit ja auch perfekt zu meinen Bedürfnissen. Zufriedene Patienten kann ich auch noch schnell recherchieren. Ich ziehe mich an und suche die wichtigsten Sachen fürs Krankenhaus zusammen – genau die Krankenkassenkarte und Geld und ein Handy damit ich weiter versuchen kann meine bessere und attraktivere Hälfte zu erreichen.
Ich schreibe einhändig eine SMS und schleppe mich ins Auto. Gottlob hat unser BMW eine Automatik die es mir ermöglicht auch einhändig am Straßenverkehr teilzunehmen. Noch dämpfen zum Glück die hübschen kleinen Adrenalin-Hormone die Schmerzen und ich fahre in das drei Kilometer entfernte Marienhospital. Dort angelangt entscheide ich mich aufgrund meiner Verletzung für einen Behindertenparkplatz vor der orthopädischen Ambulanz.
Ich quäle mich aus dem Auto und lasse mir an der Anmeldung erklären das ich dort völlig falsch bin und in den ersten Stock zur allgemeinen chirurgischen Ambulanz muss. Ich lausche der Wegbeschreibung und vergesse quasi jedes Wort nach dem es ausgesprochen wurde. Ich marschiere los und frage mich durch. In der Ambulanz angekommen werde ich freundlich empfangen und man bekundet mir eine Wartezeit von etwa einer halben Stunde. Der Arzt guckt sich kurz meine Schulter an und trifft dann eine völlig überraschende Entscheidung – „Das müssen wir röntgen!“. Nein! Doch! Ohhh!
In der Röntgenabteilung, die sich direkt neben der Ambulanz befindet – da hat doch echt mal jemand mitgedacht -,warte ich noch mal 20 Minuten. Eine wirklich ausgesprochen freundliche Mitarbeiterin verstrahlt mich zweimal und flötet mir dann zu, dass sie mal den Arzt holen will. Der kommt dann auch zügig wirft einen Blick auf die Aufnahme und teilt mir freudig mit, dass wir uns gleich bei ihm in der Ambulanz wieder sehen. Die nette Röntgenblickschwester erklärt daraufhin, dass auf dem zweiten Bild bereits meine Fraktur wunderschön zu sehen ist und sie mich keiner weiteren Strahlenbelastung mehr aussetzen wollte und deshalb beim Arzt Rückfrage gehalten hat. Ich bin über soviel Fürsorge für den Patienten beeindruckt.
Zurück in der Ambulanz warte ich nochmals eine viertel Stunde und habe dann den Arzt mit dem osteuropäischen Akzent wieder vor mir.
Quasi im vorbeigehen lerne ich den lateinischen Ausdruck für Schlüsselbein. Meine Clavicula ist gebrochen heißt es, ein idealer Bruch um zu operieren, der Oberarzt guckt sich die Bilder auch noch an und beide versprechen mir das mein Klavier bald wieder in Ordnung kommt – ach ne mein Flügel. Der Arzt will den OP-Plan prüfen ob ich vielleicht am nächsten Tag schon operiert werden kann. Ich bleibe im Zimmer zurück. Über eine halbe Stunde passiert nichts und ich beginne zu dehydrieren. Eine Schwester, die ich vorher nicht gesehen hatte betritt das Zimmer und fragt, wer zur Hölle denn ich wäre. Ich stelle mich als den Patienten vor, der auf einen Termin für seine OP wartet. Es stellt sich heraus, das mittlerweile Schichtwechsel im Krankenhaus war. Die Schwester versorgt mich mit Wasser und sucht den Arzt, dieser such den Oberarzt und eben selbiger kann gerade nichts zum OP-Plan sagen weil er gerade operiert. Ich soll doch noch ein wenig die Sonne genießen und in einer guten halben Stunde wieder vorbeischauen.
Ich nutze also die Zeit sinnvoll um der netten Frau an Information mitzuteilen, dass ich einen Behindertenparkplatz belege und man bitte mein Auto nicht abschleppen möge. Sie guckt mich freundlich an und fragt mich ob ich denn keinen Behindertenausweis ins Fahrzeug gelegt hätte ich erkläre, das ich erst seit knapp zwei Stunden behindert bin und ich deswegen damit nicht dienen könne. Sie verspricht die Techniker zu informieren (offensichtlich lassen die dort Autos abschleppen). Ich schaue sicherheitshalber mal nach und bin beruhigt den BMW noch auf seinem Platz vorzufinden. Ich rufe noch kurz meinen Chef an und überbringe die tolle Nachricht. Da ich sonst nichts weiter zu tun habe rufe ich auch noch meinen Freund Micha an und schildere auch ihm meine Heldentat. Natürlich schreibe ich zwischendurch immer wieder eine SMS an Carmen, damit sie sich nicht zu sehr sorgen muss, bekomme aber keine Antwort.
Ich frage auch schon mal nach was Wahlleistungen wie Zweibettzimmer kosten und was ich dafür machen muss.
Zurück in der Ambulanz teilt mir mir freudig mit, dass ich am nächsten Tag operiert werde und das man mir deswegen direkt Obdach gewährt. Mein Wunsch nach einem Zweibettzimmer wird an die Station weitergeleitet Ehe ich mich versehe bin unterwegs zu einem EKG und Narkosegespräch. Zwanzig Minuten später bin ich in meinem Zimmer auf der Station 7B .
Die Schwester, die mein Bett ins Zimmer bringt sagt mir, dass sie mich später noch vermessen will. Später, wende ich ein, wäre nicht so gut, weil ich möchte noch mal nach Hause fahren. Sie erledigt es sofort, diese Freundlichkeit und das aufmerksame Verhalten der Angestellten hier verblüfft mich doch ein wenig.
Mein Auto ist noch da und ich mach mich einarmig wieder zurück auf den Weg nach Hause. Kurz bevor ich auf den Hof fahre klingelt mein Handy, es ist jetzt 16:15 Uhr und Carmen hat wohl zuhause ihr Handy ausgepackt und die eine oder andere SMS gelesen. Ich komme einhändig nicht an mein Handy und lasse den Anruf unbeantwortet. 5 Minuten später stehe ich in der Wohnung und meine arme Frau ist völlig aufgelöst. Ich bin ein wenig sauer, weil sie mal wieder nicht erreichbar war. Ihr Handy ist während der Arbeit in ihrer Tasche und da wird dann auch nicht drauf geguckt. Wozu nimmt man es dann überhaupt mit frage ich mich. Aber egal, ich lebe ja noch und sie hat somit meine letzten Worte nicht verpasst.
Ich esse erstmal einen Teller Suppe, weil Nahrung hatte ich an diesem Tag noch keine. Dann packen wir ein paar Sachen. Noch schnell gönne ich mir ein Bier und beantworte noch meine dienstlichen Mails am Notebook und melde mich bei einigen Leuten ab, soweit das einarmig zu machen ist.
Es geht zurück ins Krankenhaus. Mein Zimmernachbar ist ein älterer Herr der einen netten ersten Eindruck macht. Ich werde mit Schmerzmitteln versorgt, Carmen beruhigt sich wieder und verabschiedet sich dann am Abend.
Der Zimmernachbar gibt mir die ersten Einsichten in seine Krankengeschichte, verschont mich aber vorerst aber mit Details. Ich verbringe die erste Nacht, wie bei mir nicht gerade unüblich, relativ schlaflos.
Es ist Mittwoch 07:20 Uhr als ein Pfleger das Zimmer betritt und mir froh verkündet, dass er mit mir um 07:30 Uhr im OP sein muss, da ich heute dort die Pole-Position habe. Ich schlüpfe so gut ich eben einarmig kann in meinen sexy Netzschlüpfer und mein modisches Leichenhemd, ach – sorry natürlich OP-Hemd. Wir schaffen es pünktlich in den OP wo mich der Anästhesist schon sehnsüchtig erwartet. Man erwähnt noch kurz, dass wenn es unter Umständen sein muss, man auch noch meine Hüfte aufschneidet um Konochenmark aus dem Hüftknochen zu entnehmen. Dieses soll dann als Füllmaterial für eventuelle Zwischenräume am Schlüsselbein dienen. Ich habe zwar keine „Entspannungstablette“ bekommen, verkünde aber dennoch, dass man sich getrost an mir bedienen soll. Kurz danach gleite ich auch schon ab in das Reich der Träume.
Ich erwache gefühlte fünf Minuten später im Aufwachraum. Mein Blick tastet die Wand ab und findet die Uhr schräg gegenüber. Sie zeigt 13:30 Uhr. Muss kaputt sein das Teil, denke ich mir. Ein Pfleger beugt sich über mich und kündigt meine Rückfahrt auf das Zimmer an. Ich spreche Ihn auf die Uhr an und er sagt mir das diese durchaus funktionsfähig ist. Auf meine Frage ob ich dann eventuell hier vergessen wurde lacht er nur. Den Grund erfahre ich bald.
Zu meiner großen und angenehmen Überraschung erwartet mich Carmen schon im Zimmer. Ich freue mich und döse weg. Irgendwann steht der Arzt neben mir und erklärt mir kurz warum ich nun auch noch eine lädierte Hüfte habe. Ich habe tatsächlich den OP über 5 Stunden blockiert. Meine, auf dem Röntgenbild doch so harmlos aussehende, Fraktur hat sich nach dem Aufschneiden als komplizierte Trümmerfraktur entpuppt. Eine Platte mit 8 Schrauben zieren jetzt meine Clavicula, und ich solle mich nicht wundern, wenn in den ersten Tagen meine Hüfte mehr schmerzt als der Bruch. Das Schlimme ist, der Mann hat Recht.
Den Rest des Tages verbringe ich mit meinen zwei Schläuchen und Flaschen so ziemlich im Nebel. Abends quäle ich mich mit meinen Anhängseln auf die Toilette. Die Nacht verläuft ziemlich ruhig, ich stehe unter Drogen und habe dennoch Schmerzen, diese sind aber auszuhalten. Mit jedem Aufstehen und Auftreten fährt ein stechender Schmerz in meine Hüfte. Die Schulter ist da wirklich harmlos gegen.
Am nächsten Morgen werden die Schläuche gezogen und der Zugang aus der Hand entfernt.
Mein Zimmernachbar stellt sich als Simulant heraus. Er zieht von Krankenhaus zu Krankenhaus um sich gegen seine sporadisch auftretenden Schmerzen behandeln zu lassen. Er erzählt mir seine Lebensgeschichte, vor 13 Jahren starb seine Frau überraschend mit 56 Jahren. Sein Sohn und dessen Familie wohnt in Hamburg. Der Mann ist einsam und hat seit damals wechselnde Beschwerden. Krankenhäuser sind für ihn soziale Kontaktstellen, dort wird man versorgt und was viel wichtiger ist – umsorgt. Wirklich krank ist der 73 jährige nicht. Ob er das allerdings weiß glaube ich nicht. Er erfindet immer neue Gründe warum man ihm behandeln soll, anschließend werden die Behandlungen in Frage gestellt.
Ich nutze die nächste Gelegenheit den Stationsarzt über meinen Nachbarn aufzuklären, und schon bald steht die Hauspsychologin an seinem Bett. Der Stationsarzt und auch der Oberarzt beeindrucken mich tief. Die haben für alle Belange ihrer Patienten ein offenes Ohr und sind stets bereit sich die nötige Zeit für einen zu nehmen. Zwei Tage nach der OP beginnt auch meine physikalische Therapie. Ich lasse meinen Arm bewegen – sehr bequem. Die Therapeutinnen sind sehr nett, gleiches kann ich auch über die Schwestern berichten. Man fühlt sich im Marienhospital gut aufgehoben. Jeder bemüht sich dort einem den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.
Der 73 jährige im anderen Bett nervt zunehmend. Nicht nur das er nachhaltig unser Gesundheitssystem vergewaltigt, nein auch ich muss jetzt direkt unter ihm leiden. Bei der größten Hitze will er das Fenster öffnen um mal zu lüften, und nachts wenn es dann kühl ist wird das Fenster zugeschoben. Ich weise ihn einige Male in seine Schranken und bemühe mich parallel dazu bei den Schwestern um ein anderes Zimmer. Meinem Wunsch wird für die letzten drei Tage stattgegeben. Diese genieße ich alleine im eigenen Zimmer. Nach 11 Tagen werde ich entlassen. Tags zuvor wird mein Opiat (Oxycodon) abgesetzt und ich werde vollständig auf normale Schmerzmittel eingestellt. Mein zehntägiger Dauertrip endet damit und ich werde wieder clean. Leider ist das auch direkt an den Schmerzen spürbar.
Meinen Dank und meine Zufriedenheit habe ich noch kurz vor der Entlassung dem Chefarzt per Mail mitgeteilt. Ich kann das Marienhospital wirklich empfehlen. Auch wenn das Essen kein Highlight ist, aber da sind mir doch die chirurgischen Fähigkeiten lieber!
Lange Tage und angenehme Nächte!